« Der künstlerische Gedanke hat immer Priorität »
Zu einem Gedächtniskonzert für Siegfried Palm hatten im Oktober 2015 Tochter Corinna und Ehefrau Heidy nach Biberach eingeladen, wo ,,unser Sigi’’ seit zehn Jahren seine Ruhestätte hat. Palms Musikerfreunde und kulturelle Weggefährten spielten, sprachen und schrieben ihm zu Ehren. Ich erinnerte an die von ihm während 17 Jahren konzipierten Konzerte mit aufre-
gender moderner und zeitgenössischer Kammermusik zur Eröffnung der Kunstausstellungen im Kulturhaus von Bayer in Leverkusen, dem über 100-jährigen Erholungshaus.
Dank Siegfried Palms Wissen und Können, dank vieler wunderbarer Musiker wurden diese Matinéen, Sonntag um 11 genannt, zu einem Treffpunkt neugieriger Kunst- und Musikfreunde zwischen Köln und Düsseldorf. Noch über seine Zeit hinaus, bis zur Spielzeit 2007/08, waren die Matinéen von ihm inspiriert.
Von grosser Bild-Kunst umgeben zelebrierte unser Sigi – so durften Freunde ihn nennen –
an vier Sonntagen im Jahr, von 1984 bis 2001, moderne bis zeitgenössische Musik-Kunst
im Kulturhaus von Bayer, dem traditionsreichen Erholungshaus in Leverkusen, vor einem Publikum, das eigentlich zu Ausstellungseröffnungen gekommen war, aber sehr schnell verstanden hatte, welches Privileg ihm da zuteil wurde.
Meinem Vorgänger Franz Willnauer war da ein toller Coup gelungen: er verabredete mit Siegfried Palm eine Matinée-Reihe, um zu beweisen, dass «es zwischen der neuesten Bildenden Kunst und der Neuesten Musik enge Zusammenhänge gäbe». Das Experiment gelang. Das Kunstpublikum und schnell darüber hinaus neugierige Musikfreunde waren glücklich über diese anspruchsvollen, von Palm moderierten Konzerte, in denen er auch regelmässig selbst spielte. ''Spielte'' im doppelten Sinn: als Meister-Interpret und als spielerisch-listiger Verführer. Unzählig jene, die dank ihm, auch bei uns in Leverkusen,
das oft so sperrige 'Moderne' der Musik lieben lernten.
Als ich 1986 die Leitung der Bayer Kulturabteilung übernahm, bat ich, der Unbekannte aus der Schweiz, respektvoll Herrn Professor Palm darum, ein Jahr zu pausieren – ganz böser Blick, um dann meinen Spielplanvorgaben zu folgen. Was ich denn vorhabe, wollte er skeptisch wissen: Neue Wiener Schule, eine Saison Française, Zeitgenössisches aus Deutschland, ein Europäisches Kaleidoskop, ARD-Auftragskompositionen... Der Blick
wurde freundlicher und der Professor begann grummelnd zu skizzieren, was da alles
möglich sei. Und was dann in der Folge möglich war. Und wie!
Nach unserer ersten Serie war das Eis gebrochen, er fasste Zutrauen; und das Publikum genoss wieder, viermal im Jahr, unsere unverwechselbaren Palm-Sonntage.
Das Wissen und die Fantasie dieses mutigen, besessenen Könners liess aus den Sonntag-um-
11-Konzerten eine unantastbare Einheit werden, seine Art eines 'Donaueschinger Manifests'. Auch wenn manchmal irritierte Seh-Hörer die Vernissage-Musik verliessen und sogar protestierten – kein Bayer-Vorstand hätte je eine Kursänderung verlangt. Dort hatte sich diese Spielplan-Eigenwilligkeit und deren Erfolg herumgesprochen, und nicht selten war der eine oder andere dieser wichtigen Spezies Zeuge unseres Tuns, beindruckt von Dir, Sigi, von Deiner Musik, aber auch von unserem Publikum.
Eine einzige 'Dame' tat in all dieser Zeit aber so, als wenn es unser Musik-Konzept nicht gäbe: die Presse. 'Sie' berichtete nie über das, was nur wenige Kilometer von Köln und Düsseldorf entfernt, in der Provinz, kulturelles Aufsehen erregte. Zwei grosse Verlagshäuser hatten mit ihren Berichtraum-Aufteilungen quasi ein Bericht-Niemansland entstehen lassen, und das hiess sehr oft – Bayerkusen. Honni soit qui mal y pense!
Gegen diese Absurdität waren wir machtlos, unsere Proteste brachten nichts. Deshalb gaben wir im April 1996 eine kleine, feine Dokumentation über Dein Wirken bei uns heraus, damit niemand sagen kann, dass da nichts war! Wir nannten diese Broschüre «Zeit für Siegfried Palm, Kammermusik dieses Jahrhunderts».
Kompositionen von Amy, Berio, Boulez... bis Xenakis, Yun, Zimmermann – die über 80 Namen waren wie ein Who-is-Who und die Anzahl der Interpreten (alle, die Du einludst, kamen mit Vergnügen) ist noch grösser und zeigen, WAS da einmal war!
Wie das war, nach einem Vernissage-Konzert, zeigt ein Foto vom September 1997 aus
dem Künstlerzimmer des Erholungshauses, nach der Eröffnung der neuesten Ars-Viva-Ausstellung, zu der Rainer Kochs Bayer Philharmoniker das «Furioso» von Rolf Liebermann spielten, danach die Uraufführung «No-Re» für Violine und Orchester von Gyu-Bong Yi mit Christian Tetzlaff als Solisten, der anschliessend die Sonate für Violine solo von Béla Bartok interpretierte. Natürlich waren die Interpreten und die beiden lebenden Komponisten anwesend, in guter Gesellschaft mit gleich drei Vorständen, dem Werksleiter, dem Ober-
bürgermeister, dem Kulturdezernenten... unsere Gute Stube war wieder rappelvoll. Nach unserer üblichen Manöverkritik (der Schnappschuss gibt das gut wieder) gingst Du wieder
zu Freund Rolf, ihr beiden Grossen Alten hattet euch wie immer viel zu sagen.
Ohne die 15 Jahre mit Dir als Sonntags-Partner, lieber Sigi, hätten meine 22 Kulturjahre bei Bayer nicht dieselbe Würze gehabt. Darüber hinaus warst Du ein Schutz gegen Kleingeister. Wer jemanden wie Dich zur Seite hatte, war denen weniger ausgesetzt. Können und Mut schrecken Mittelmass und Anmassung ab. Auch der Deutsch-Französische Kulturrat, dem ich dank Deiner Empfehlung neun Jahre lang angehörte, konnte sich auf diese Eigenschaften von Dir, Monsieur le Président, immer verlassen.
Im Frühjahr 2008, einige Monate vor meiner Pensionierung, stellte eine neue Kulturaufsicht erstmals unser jahrzehntelanges Selbstverständnis infrage: die ärgerten sich über Gran Torso von Lachenmann und Xenakis' Pléiades sollte, trotz Ankündigung, abgesetzt werden. Die Vehemenz, mit der ich diese Werke und unsere Pflicht und Absicht vor den Interpreten (musikFabrik, Percussions de Strasbourg) und gegen das peinlich-kleinliche Denken dieser Neuen vertrat und durchsetzte, diese Vehemenz hatte Deinen Atem und war Deine Schule.
Ein Jahr danach gab es «Sonntag-um-11» – das Forum für zeitgenössische und moderne Kammermusik – nicht mehr. Dein Konzept hat von 1984/85 bis 2008/09 den Spielplan der Bayer Kulturabteilung belebt und zur Bildung unseres Publikums viel beigetragen.
Ich habe mich in meinem Berufsleben auch am kulturellen Rückgrat einiger Persönlichkeiten orientierten können: Rolf Liebermann, Arno Wüstenhöfer, Jean-Jacques Rapin und Du – Siegfried Palm. Jedem neuen Kulturverantwortlichen rate ich, dass er sich an Vorbildern, Modellen schult; und ich wünsche ihm, dass er sie auch findet.
Nikolas Kerkenrath
Leiter der Bayer Kulturabteilung 1986-2008
Mitglied im Deutsch-Französischen Kulturrat 2000-09